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Gesellschaftliche Fiktionen

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UnNatur (Pt. 21)


Tinhamos acabado de jantar. Wir hatten (gerade) das Abendessen beendet. So fing sein Werk damals an. Damals war vor fast 96 Jahren, zeitloser gesagt war es der 01. Mai 1922. An diesem Datum erschien in Lissabon erstmals die (Rezensions-)Zeitschrift "Contemporânea" (con = mit, temporanea = vorrübergehend, schlicht übersetzt ins Deutsche = zeitgenössisch). Die oftmals ausschließlich als Satire* verstandene Erzählung O Banqueiro Anarchista umfasste 17 Seiten der 50-seitigen ersten Auflage. Unter dem Titel "Ein anarchistischer Bankier" erschien 64 Jahre später ein Buch im Quartformat [Wagenbach'sche Quarthefte] mit 71 Seiten (kein Zahlendreher!). Heute kennen viele Menschen auch hierzulande den Autor und seine Schriften. Da dieses Blog keine Buchrezensionsplattform darstellt, begnüge ich mich jedoch mit dieser kurzen Randerwähnung zu Fernando Pessoa. Überdies habe ich das Buch auch nicht gerade gestern gelesen (, und im Prinzip geht es auch gar nicht darum). 
Vor einigen Tagen weckte mich indes die Neugierde, mit der Frage, ob es denn jemand bereits vollbringen konnte [richtig wohl "vollbrachte"], diese Erzählung auswendig vorzutragen, also ganz ohne Hilfe eines Souffleurs/einer Souffleuse (oder neuerdings mit Knopf im Ohr). Um es kurz zu machen: Meine Suche war erfolgreich! Ein Schweizer schaffte es - und wer sich eine Stunde Zeit nehmen will, kann sich diese wunderbare Interpretation gerne anschauen (EMPFEHLENSWERT!): 

Laut gedacht: "Gute Videos" haben in aller Regel wenige Aufrufe, es verwundert mich ... nicht, irgendwie.

Posthum ist Pessoa ja nicht ohne Grund für Portugal einer der bedeutendsten Lyriker (und mehr) geworden. Seine Gebeine (und mehr) liegen heute (50 Jahre nach seinem Ableben) ganz in der Nähe der größten Seefahrthelden im Hieronymitenkloster und noch heute (und seit 1988) sitzt eine Abbildung von ihm im Café A Brasileira am Chiado, dem einstigen Künstlertreff des frühen 20. Jahrhunderts. Eben just so eine Huldigung musste gänzlich gegen seinem Sinne gewesen sein, wollte er doch wie eine Person (= Pessoa) tatsächlich eher anonym leben, zumindest fernab von Rummel, nicht mitten in diesem. Die Rua dos Douradores war seine Welt und sein Heteronym Bernardo  Soaras war er.
Posthum ist Pessoa auch für mich zu einer Figur in der Menschheitsgeschichte geworden, der mir oft aus dem eigenen Sinne spricht, vor allem eben durch seine Figur des Hilfsbuchhalters, der ich im Prinzip auch bin (sic!). Möglicherweise bin ich (lediglich) emotionaler und bestimmt war er das auch. 

Der anarchistische Bankier ist mir all die Jahre im Kopf geblieben, und mit ihm der Begriff der gesellschaftlichen Fiktionen. Es ist nicht so, dass es eine Inspirationsgabe war, denn von äußeren Eingebungen bin ich keinesfalls ein Befürworter. Erkenntnisse sollten stets aus dem Inneren kommen, aus den Gefühlen oder den Gedanken, wie auch immer diese strukturiert sind. Es sind die natürlichen Mitgaben, die jeder Mensch in sich trägt, unabhängig davon wie pervertiert ihn seine Lebenszeit in all den bürgerlichen Fiktionen gemacht hat. Über diese und andere Dinge schrieb der Autor selbstverständlich auch, so ich mir doch auch ähnliche Gedanken machte, noch ehe ich diese Person kannte. Wie konnte ich auch? Als ich das Licht der Welt erblickte kannte ihn kaum jemand. Mystifiziert man diese Aussage, könnte man zwei Hypothesen herauspressen: a) er und ich sind vom gleichen Holz oder b) ich war er. Beides ist natürlich nicht richtig. Dennoch verspürte ich bei der ersten Begegnung durch seine alten Worte eine unglaubliche Vertrautheit - und damit bin ich sicherlich nicht alleine. 

Somit ergibt sich leider, dass ich nicht viel mehr schreiben kann, als es Pessoa schon durch seinen anarchistischen Bankier tat, wenn es um einen Inhalt zum Titel geht. Ja, ich verweigere mich weiterer Worte, fehlt mir doch auch ein passendes digitales Heteronym, um meine Überlegungen schriftlich zum Ausdruck zu bringen. Ohnehin bin ich weder ein Bankier, noch ein Anarchist, doch unabhängig davon ist viel Wahrheit in diesem Werk enthalten, selbst bei mancher Ungereimtheit.* Das größte fiktionalste Übel unserer Gesellschaft ist nun mal das Geld. Das Kredo darf allerdings nicht lauten, sich selbst zu bereichern, um diese Übel auszumerzen, weil es keinen Wert mehr hat, wenn man genügend davon hat. Das Kredo darf ebenso wenig lautet, sich von diesem Übel zu entfernen; in Abgeschiedenheit zu leben, autark so gesehen, ist sicherlich ein Weg des Entbehres, dennoch und gerade auch ein Pfad, der mit einer Flucht gleichzusetzen ist. Beide Varianten haben daher eines gemein: sie dienen lediglich der eigenen Sache.
Lest das Buch mit Gefühl oder schaut das Video. Es gibt sicherlich auch eine Hörbuchversion. 

"Auf dieser Welt lebt nichts, wenn die Wurzel nicht im Herzen liegt. Gerechtigkeitsbegriff -  wir alle haben ihn. Und welche Gerechtigkeit schaffen wir? Ausflüchte. Wir alle machen Ausflüchte. Und wie sieht es mit unserer Mildtätigkeit aus? Mein Freund, zwischen den Menschen, die von einer Sache nur überzeugt sind, und denen, die sie wirklich erfühlen, liegt eine große Entfernung. In dieser Entfernung liegt alles." 

E levantámo-nos da mesa. Und wir stehen vom Tisch auf. So endete das Werk.

___
Ich bin Pessoa dankbar, dass er seinerzeit den Mut fand, diese Zeilen unter eigenen Namen zu veröffentlichen. Bedenkt man die allgemeinen gesellschaftlichen Unruhen nach dem 1. Weltkrieg und vor allem die politischen Umbrüche in der portugiesischen Regierungsstruktur (Absetzung der Monarchie/Aufruf einer säkularen Republik), so kann man nur zur Schlussfolgerung kommen, dass diese und andere Abschriften jener Zeit nur unter dem Deckmantel einer Satire gelesen werden durften. Unter eben diesen Gesichtspunkten muss speziell O Banqueiro Anarchista heute jedoch ganz anders betrachtet werden (, aber jetzt wiederhole ich mich quasi). 



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